Die Kunstsammlung NRW in Düsseldorf stellt Mondrian auf den Kopf
Lese ich im Band 5 des Duden Fremdwörterbuchs über Inspiration, so finde ich folgende Erklärung: Inspiration die; -, -en [lat.; „Einhauchung“]: 1. schöpferischer Einfall, Gedanke; plötzliche Erkenntnis, erhellende Idee, die jmdn., bes. bei einer geistigen Tätigkeit, weiterführt; Erleuchtung, Eingebung. und 2. (Med.: ohne Plural) Einatmung; das Einsaugen der Atemluft. So also erklärte uns schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts Konrad Duden aus Wesel diesen aus dem Lateinischen stammenden Begriff. Und so viele dieser Ausdrücke treffen zu, wenn ich die Werke von Piet Mondrian sehe und dabei Fotos in meinem Kopf entstehen.



Eine opulente Werkschau des niederländischen Ausnahme-Künstlers Piet Mondrian (*1872 in Amersfoort †1944 in New York) beseelt jetzt noch bis zum 10. Februar 2023 die Räume der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, dem K 20 in Düsseldorf. MONDRIAN.EVOLUTION heißt die Präsentation mit achtundachtzig Arbeiten des Malers, der zeitlebens auf der Suche nach der Wirklichkeit war, nach dem Fundament der Dinge, wie er selber einmal sagte. Evolution ist hier eher nicht im Darwinschen ursprünglichen Sinne gemeint, sondern vielmehr als Dokumentation der Entwicklungsschritte im Künstlerleben Mondrians. Am Anfang seiner Karriere malt er, was er sieht: die Dünenlandschaften Zeelands mit den typischen holländischen Windmühlen, den Bäumen, den Türmen der meernahen Gemeinden und immer wieder den Strand, wo vertikale Formen mit der dominierenden Horizontalen der Meereslandschaft kollidieren. Die Entwicklung seines Schaffens zu immer abstrakteren Motiven, bis hin zu den weltberühmten Farbkombinationen rot-gelb-blau ist in der Ausstellung gut begreifbar. Das K 20 präsentiert mir die kreative Lebensgeschichte des Malers in chronologischer Reihenfolge, so ich im Museum vom Eingang aus rechts und dann gegen den Uhrzeigersinn die Ausstellung durchlaufe.









Bereits die ersten Arbeiten des Autors aus der Zeit um die Jahrhundertwende (1890er bis 1910er Jahre) verraten mir einen wesentlichen Teil seiner Persönlichkeit: er war ganz offenbar ein sehr disziplinierter, seine Arbeitsweise kontrollierender und hoch konzentrierter Perfektionist. Die Konzentration auf das Wesentliche seiner Seh-, Denk- und Arbeitsweise führten ihn immer weiter von der figürlichen hin zur radikalen abstrakten Malerei. Diese Reduktion der Wirklichkeit von Landschaften und Architektur komponierte er geradezu, wie Beethoven es in der Musik vermochte, auf das wenig Wesentliche. Auch deshalb tragen wohl seine abstrakten Werke den Co-Titel Komposition.
Ich meine mich an ein Mondrian-Ausstellungsplakat aus den späten Sechzigerjahren zu erinnern, das mein älterer Bruder in unser Kinderzimmer gehängt hatte. Es ist gut möglich, dass ich mich bereits vor meinem Fotografenleben für die linienorientierten Rechtecke und Quadrate mit Rot, Gelb und Blau begeistern konnte. Aber spätestens seit ich mit der Kamera unterwegs bin und immer wieder Landschaften, Architekturen aber auch andere Motive auf vertikale und horizontale Geometrien abklopfe, ist mir Mondrian ständiger Anstifter.




Heute weiß ich, dass sich Mondrian von den Seelandschaften seiner Heimat hat inspirieren lassen, von dem Licht, das hinter den Dünen im Osten begann und mit brennender Sonne abends im Meer verging. Der Faszination eines solchen Naturerlebnisses konnten sich Generationen von Malern offensichtlich bis heute nicht entziehen. Dort wo natürliche Urgewalt in Form scheinbar endloser Wassermassen und Spuren menschlicher Zivilisation aufeinandertreffen, entsteht eine ganz besondere Landschaft: eine Art Zwischenraum an der Nahtstelle von Wasser und Land. Auch mich als Fotograf hat dieser Zwischenraum immer besonders angezogen. In zahllosen Motiven reduziere ich diese romantische Landschaft auf zwei wesentliche Bestandteile: auf die gewaltige Natur in Form eines Himmel und Wasser teilenden Horizonts und dagegen auf vertikale Formen, die eindeutig menschliche Spuren dokumentieren. Eine Art der Reduktion, wie Mondrian sie belegen wollte? Diesen vermessenen Zusammenhang dürfen andere bewerten.










Unbenommen bleibt mir jedoch die Freude als Lichtbildner, in eigener Bildsprache Themen zu arbeiten, die Betrachtenden einen Blick auf Wesentliches durch Weglassen vermitteln. Und dabei kann ich mich von Mondrians Werken immer wieder aufs Neue inspirieren lassen.

Die Kunsthistorikerin Susanne Meyer-Büser, Co-Kuratorin der Ausstellung im K20 neben Kathrin Beßen, verrät im übrigens empfehlenswerten Katalog, dass das Werk New York City 1 seit über siebzig Jahren auf dem Kopf ausgestellt wird. Geradezu zufällig sei sie auf ein Foto gestoßen, das ein Modefotograf 1944 im Studio Mondrians in New York gemacht hatte, auf dem das Werk auf einer Staffelei im Hintergrund zu sehen ist – um 180 Grad gedreht. Detaillierte restauratorische Untersuchungen der Verlaufsrichtung der Klebestreifen hätten dann ergeben, dass das Werk beim Erstellen auf dem Kopf gestanden haben muss. Mondrian wird durchaus beim langwierigen Entstehungsprozess das Werk mehrfach auf der Staffelei gedreht haben, überzeugen tut mich allerdings ein anderes Indiz für die neue „verkehrte“ Betrachtungsweise: sehe ich auf beide Versionen im direkten Vergleich, fällt mir auf, dass die um 180 Grad gedrehte Variante eine intensivere Tiefe, mehr Räumlichkeit gewährt, die das Bild mehr als einen Stadtplan der geometrisch angelegten Stadt New York aussehen lässt. Das auf den Kopf gedrehte Werk offenbart mir mehr Stadt-Raum als nur Stadt-Plan. Entspräche das nicht mehr der Intention des Autors? Nach Aussage der Kuratorin bleibt das Bild aber zunächst in tradierter Ausrichtung.


Die Kunstsammlung NRW lädt ins K 20 nach Düsseldorf zum 150. Geburtstag Piet Mondrains ein, nicht nur um dem vermeintlich auf den Kopf gestellten Werk auf den Grund zu gehen, sondern auch um sich einen umfangreichen Gesamteindruck des Schaffens des Künstlers machen zu können. Das wertvolle Werk New York City 1 ist übrigens vor unangemessenen und einfallslosen Protesten sogenannter Klimaaktivisten gut mit Acrylglas geschützt.

Die Ausstellung vermag durchaus alle BesucherInnen inspirieren, nach dem Besuch Bekanntes wie den Strand, die Kirche, das Meer, Holzpfähle am Strand und die Stadt mit anderen Augen zu sehen und auf der Suche nach einer Wirklichkeit durch Abstraktion neue Eindrücke eines gewohnten Umfelds zu erfahren, ganz im Geiste des grandiosen Künstlers Piet Mondrian.
k.e, im November 2022

Bei meinen Recherchen zu diesem Blog-Bericht fiel ich übrigens im InterNet über das Poster, an das ich mich zu erinnern glaube. Den Entwurf dafür lieferte 1968 der Schweizer Architekt und Grafiker Max Bill zur Eröffnung der Neuen Nationalgalerie in Berlin.
Alle meine Fotos der Ausstellungsvorbesichtigung finden Sie hier in den SCHUBLADEN meines Archivs.
Auf der Zuhause-Seite des K 20 finden Sie umfängliche Informationen zur Ausstellung.