Die frühen Jahre – Große Marc Chagall Ausstellung im K20
Ich erinnere mich gut an die Bilder in den Lesefibeln meiner Unterstufen-Schulzeit: die dort abgebildeten Bilder eines Marc Chagall machten großen Eindruck auf mich. Laute klare Farben und unzählige figürliche Detailmotive in den Abbildungen zwischen den Lesestücken weckten nicht nur höchste Aufmerksamkeit bei mir, sondern bewegten mich obendrein zu Phantasiereisen abseits des schulischen Alltags. Ich möchte das heute keinem Schulbuchverlag wirklich vorwerfen, aber mein Interesse für die Gemäldeabbildungen könnte durchaus ursächlich für meinen Unmut gewesen sein, die dazwischen befindlichen Texte zu lesen, wie es mein Deutschlehrer damals aus gut gemeinten pädagogischen Gründen gefordert hatte. Heute erfahre ich nun in der Düsseldorfer Präsentation ein Wiedersehen mit den wunderbaren Motiven Marc Chagalls aus meiner Lesefibel von damals. Die großformatigen Originalgemälde üben jetzt eine noch größere Faszination auf mich aus.

An dieser Stelle finden Sie Auszüge aus dem Pressetext des Museums: Der russisch-französische Maler Marc Chagall ist ein Ausnahmetalent der Moderne und zählt zu den wichtigsten Künstler*innen des 20. Jahrhunderts. Seine fantastisch-poetischen Bildwelten und deren Motive sind bis heute rätselhaft, deren intensive Farbigkeit außergewöhnlich.
Die Ausstellung im K20 zeigt vom 15. März bis 20. August 2025 rund 120 Gemälde und Papierarbeiten aus allen Schaffenszeiten des Künstlers. Ein Schwerpunkt liegt auf den frühen Arbeiten, die zwischen 1910 und 1923 entstanden sind. Deutlich zeigen sich hier die Einflüsse der Avantgarden auf das Werk Chagalls aber auch die gesellschaftskritische und bisweilen dunkle Seite seines Werks. Die Ausstellung veranschaulicht zudem die Entwicklung des Künstlers und seiner Motive bis in die 1980er Jahre, in denen er mit der leuchtenden Farbigkeit seiner Bilder ein breites Publikum begeisterte.
Marc Chagall (geb. 1887 in Witebsk, Russisches Kaiserreich, heute Belarus – gest. 1985 in Saint-Paul-de-Vence, Frankreich) kommt 1911 mit 23 Jahren nach Paris. Wie viele seiner Künstlerkolleginnen ist er mittellos, spricht kaum Französisch und ist überwältigt von der Modernität und Energie der Stadt. Anders als in anderen europäischen Ländern, wurden Juden in Frankreich ab dem Jahr 1791 als freie Bürger anerkannt. Das zog viele jüdische Künstlerinnen nach Paris, um dort zu leben und zu arbeiten und sich frei in der Kunst auszudrücken. Dennoch waren sie im Alltag mit Ausgrenzung und Diskriminierung konfrontiert. Chagall findet, anders als die meisten Immigrant*innen, nach kurzer Zeit Zugang zu den Pariser Zirkeln der künstlerischen und literarischen Avantgarde und wird Teil einer eingeschworenen Freundesclique, die sich gegenseitig unterstützt. Deren Kern bilden die Literaten und Kunstkritiker Guillaume Apollinaire, Blaise Cendrars und Ludwig Rubiner, der Filmtheoretiker Ricciotto Canudo und die Künstlerinnen Robert und Sonia Delaunay, Fernand Léger und einige andere. Auch Herwarth Walden, der Berliner Galerist und Herausgeber der Zeitschrift Der Sturm, ist Mitglied dieses Kreises. Er zeigt 1913 Werke des noch unbekannten Chagall im Ersten Deutschen Herbstsalon und ermöglicht ihm 1914 seine erste große Einzelausstellung überhaupt. Worin begründet sich Chagalls früher Erfolg? Wie viele junge Künstlerinnen experimentiert auch er mit den Stilen der westlichen Avantgarde. Das Besondere ist, dass er Fauvismus und Kubismus mit jüdischen Motiven und osteuropäischer Folklore verbindet. Daraus entspringt eine aus dem Erleben begründete surreale Motivwelt – das verschafft Chagall ein Alleinstellungsmerkmal in seiner Zeit. Schwebende Menschen und Tiere, Geiger auf Dächern, Riesen, Winzlinge und Mischwesen bevölkern seine stets in überwältigender Farbigkeit gestalteten Kompositionen. Das ist „surnaturel“ (übernatürlich), so schwärmt der Schriftsteller Guillaume Apollinaire beim ersten Besuch in Chagalls Atelier. Innerhalb von nur vier Jahren hat sich Chagall einen unverkennbaren Stil erarbeitet. Doch die fremden Welten, die Chagall entwirft, sind keineswegs nur poetisch aufgeladene Märchen, sondern enthalten scharfe Kritik an den gesellschaftlichen Bedingungen seiner Zeit.

Marc Chagall reflektiert zeitlebens seine Herkunft. Vor allem in den frühen Werken thematisiert er die Kindheit und Jugend in der Begrenztheit des jüdischen Viertels in Witebsk. Die Kleinstadt mit ihren eng gedrängten Häusern und dem markanten Kirchturm ist ein oft verwendetes Motiv. Bilder wie Sabbath, 1911, Das gelbe Zimmer, 1911, Russland, den Eseln und den Anderen, 1911, und Golgatha (Die Kreuzigung), 1912, erzählen Geschichten vom jüdischen Alltag, den Festen und Gebräuchen, von Liebe und Lust, aber auch Ritualmordbeschuldigungen und Pogromen, die Chagall 1905 in Witebsk erleben musste.
Nach der Ausstellung in der Sturm-Galerie in Berlin, reist Chagall im Sommer 1914 weiter nach Witebsk. Geplant ist ein kurzer Aufenthalt, doch der Ausbruch des Ersten Weltkriegs verhindert die Rückreise nach Paris. Acht Jahre bleibt er in Russland, wohnt wechselweise in St. Petersburg, Witebsk und Moskau. Durch die Heirat mit Bella Rosenfeld erhält Chagalls Kunst neue Impulse: Das Glück der Zweisamkeit wird zu einem zentralen Motiv.
Zugleich greift er auf vertraute Themen zurück: Er malt die Eltern und Geschwister; in diversen Selbstporträts hinterfragt er seine Situation. Malerische Experimente wagt er nur bei Landschaften und Liebespaarmotiven.

Die Versprechen der Oktoberrevolution von 1917 wecken zunächst Chagalls Enthusiasmus. Er wird 1918 zum Kommissar für die schönen Künste der Region Witebskernannt, gründet eine Kunsthochschule und wird dessen Leiter. Er lädt namhafte Künstler, wie El Lissitzky und Kasimir Malewitsch als Lehrer ein. Ihre unterschiedlichen
Kunstauffassungen führen jedoch zu Streitigkeiten. Besonders mit Malewitsch, der für den Suprematismus steht – also für die „abstrakte, reine Malerei“ – gibt es Diskussionen über das Verständnis von revolutionärer Kunst. Als Chagalls Studenten zu Malewitsch wechseln, verlässt Chagall die Akademie und zieht nach Moskau. Die Ausstellung im K20 präsentiert eine Reihe außergewöhnlicher Papierarbeiten, die zeigt, wie Chagall trotzdem über Jahre
hinweg mit abstrakten Kompositionen experimentiert.
Chagall kehrt 1922 zunächst nach Berlin und 1923 nach Paris zurück. Er muss feststellen, dass seine zurückgelassenen Werke verkauft oder zerstört sind. Er beginnt, Neufassungen zu malen und begeistert damit Sammlerinnen und Galeristinnen. Erstmals kann er in den 1920er und 1930er Jahren ein unbeschwertes Leben führen. Eine neue Leichtigkeit und ein transparenter Farbauftrag finden Einzug in seine Bilder. Motive aus Witebsk stehen neben neuen, in Frankreich gewonnenen Eindrücken. Eine Einladung der Surrealist*innen, sich ihrer Gruppe anzuschließen, lehnt er ab.
Fortan lässt sich bei Chagall kaum mehr eine chronologisch fassbare stilistische Entwicklung feststellen. Er wiederholt Bildmotive und Themen, schafft dafür neue Kontexte und greift mit der Anlehnung an ein Sujet auch auf frühere Stilstufen zurück.
1941 emigriert Chagall nach New York. Erst 1948 kehrt er nach Frankreich zurück. Seinen herausragenden Status als Künstler hat er längst international manifestiert – durch zahlreiche Ausstellungen und Großaufträge für Glasfenster und Dekorationsarbeiten in Theater- und Opernhäusern. Auch in den späten Werken der 1960er bis 1980er Jahre
reagiert er sensibel auf gesellschaftliche Entwicklungen und das Weltgeschehen insgesamt. Witebsk und Paris werden zunehmend zu Sehnsuchtsorten und Christus, der gekreuzigte Jude, zum Sinnbild des Leidens.
Ausgangspunkt und Anlass der Ausstellung sind drei Gemälde von Marc Chagall, die vor dem Ersten Weltkrieg in Paris entstanden sind und sich im Besitz der Kunstsammlung befinden. Es handelt sich um die Arbeiten Selbstbildnis, 1909, Der Geigenspieler, 1911-1914, und Rabbiner mit Zitrone (Festtag), 1914; alle drei Gemälde dürfen zu den frühen Hauptwerken des Künstlers gezählt werden.

36 namentlich genannte Leihgeber verzeichnet der umfängliche und großartig sortierte Katalog zu beiden Ausstellungen in Wien und Düsseldorf. Unter ihnen renommierte Museen wie das Centre Pompidou Paris, die Finnish National Gallery, Helsinki, die Hamburger Kunsthalle, das Kunstmuseum Basel, The Metropolitan Museum of Art, New York, Museo Nacional Thyssen-Bornemisza, Madrid, The Museum of Modern Art, New York, das Städel Museum, Frankfurt, die Tate Gallery of Modern Art, London, das Tel Aviv Museum of Art und das Van Abbemuseum, Eindhoven. Eine herausfordernde Organisation der Überzeugungsarbeit und der Logistik muss notwendig gewesen sein, um so viele Leihgaben im Düsseldorfer K20 für die Ausstellung präsentieren zu können. Gelohnt hat es allemal.
Die Kuratorin Susanne Meyer-Büser ist gleichermaßen Mitherausgeberin des Katalogs.

Alle Fotografien: © 2025 Karsten Enderlein
Alle Fotos der Ausstellungsvorbesichtigung sind in den SCHUBLADEN meines Archivs hier zu sehen.
Alle Informationen zur Chagall Ausstellung finden Sie auf der Zuhause-Seite des K20.





