MEIN PARIS – BEGEGNUNGEN 1978-2024

Aus über 45 Jahren eine Auswahl an Fotografien aus den SCHUBLADEN meines Archivs

MEIN PARIS – BEGEGNUNGEN 05.2024

Ende November 1978: ein Freund bat mich um einen Transport seines in Deutschland gekauften Kühlschranks für seine Wohnung im damaligen Arbeiterviertel um die Rue Saint-Maur im 11. Arrondissement. Eine abenteuerliche Fahrt über die „grüne Grenze“ mit meinem Renault R6 TL – bei Nacht und Nebel, weil wir den Einführungszoll auf Küchengeräte nach Frankreich sparen wollten. Mein erstes Mal in Paris. Seitdem zieht es mich regelmäßig in die französische Metropolregion an der Seine mit heute mittlerweile über zwölf Millionen Einwohnern. Damals wirkte diese riesige Stadt auf mich Landei unheimlich exotisch. So viele Menschen in Bewegung, so viele wunderschöne alte Wohnhäuser und Bauten, so viele Straßencafés, so viel Lärm und so viel Farbe und Farbigkeit kannte ich nicht einmal aus Berlin, und der damals noch existierende Westteil der Stadt war schon eine große Nummer. Die mich fast überfordernden Impressionen wollte ich nicht nur als Erinnerung im Kopf behalten, deshalb war bis heute auf jeder meiner Paris-Reisen die Kamera dabei – zuletzt auf einer Frankreich-Reise im Juni dieses Jahres.


Ganz Paris scheint ständig in Bewegung. Reisende mit mehr oder weniger Gepäck begegnen einem in der ganzen Stadt, rund um die Uhr. Dem historischen Zentralismus der Pariser Herrschenden ist es geschuldet, dass auf Reisen durch Frankreich, egal ob mit dem Zug, dem Auto oder dem Flugzeug kein Weg an der Metropole vorbeiführt. Als Zug- und Flugreisender muss man dann von einem Kopfbahnhof zum anderen Anschluss-Kopfbahnhof quer durch die Stadt. Also ab in den Untergrund, in die Metro, erste Strecke im Jahre 1900 erbaut. Hier ist dicht gedrängt ein repräsentativer Querschnitt durch die französische Bevölkerung zu beobachten. Alles fährt, alles läuft, und in den Cafés rund um die Bahnhöfe warten alle auf den nächsten Anschluss.



Genügend Raum gibt es in der brodelnden Metropole für die heute so genannte Entschleunigung aber auch. Große und kleine oasenartige Parks bieten nicht nur im Sommer Gelegenheit für Begegnungen oder für einen erholsamen kleinen Schlaf. Denn Paris kann anstrengend sein, auch weil bis zu 16 Millionen ausländische Touristen pro Jahr auf der Suche nach Kultur und Konsum diese beiden Ereignisse pauschal vermischen.


Eine Musterwohnung mit dem poetischen Namen „Eve“ stand im Dreck zur Besichtigung, ein Quadratmeter 2.800 Francs. Einige Häuser waren schon bewohnt, sie hatten große Innenhöfe, durch die Passagen pfiff der Wind. In einem Innenhof sah ich auch einen Kinderspielplatz: Er bestand nur aus einem quadratischen Sandkasten, zwanzig mal zwanzig Meter. Zwei Kinder saßen dösend darin. Es gab ein Schnellverkaufgeschäft, das „Quick food“ hieß. An einer Snack-Bar mit Sandwiches und dergleichen stand traurig mit alt-französischen Buchstaben „Brasserie“… La Défense müßte eigentlich Sperrzone sein – weil da die Geheimnisse der technokratischen Welt sich ganz unverschämt verraten. Ein Stacheldraht gehört ringsherum und Schilder „Fotografieren verboten“. Aber die verantwortlichen Unmenschen in ihren menschenwürdigen Umgebungen sind sich schon zu sicher. Geil lassen sie auf den Tafeln vor den Hochhausunterschlupfen ihre Namen leuchten: Bank von Winterthur, Chase Manhatten Bank, Siemens, Esso… Die Architekten und Planer sollen sich inzwischen von ihren eigenen Entwürfen distanzieren, hört man. Was ist das, ein Architekt? Peter Handke: Als das Wünschen noch geholfen hat. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1974


Peter Handke! 1974! – Seitdem hat sich viel verändert, oder auch nicht? Paris ist viel zu groß und zu komplex, um Unterschiede und Kontraste zwischen Kunst und Kommerz, arm und reich, groß und klein verbergen zu können. So erfährt man immer augenfällige Gegensätzlichkeiten – wie zwischen Tag und Nacht. Dadurch ist kaum Veränderung durch Anpassung sichtbar, denn manchmal sind die Unterschiede einfach zu groß. Dieses Jahr ist Paris ganz im Olympia-Taumel. Nach Roland Garros und der Tour de France ein weiterer Höhepunkt verkommerzialisierter Sportereignisse. Das Paris am Rand kurz vor der Périphérique bietet dennoch Platz für Besinnlichkeit und Abstand, und das ständige Rauschen signalisiert trotzig weiterhin die Lebendigkeit und Vielfältigkeit dieser einzigartigen Stadt.


Mein Traum von Paris wird weitergehen. Und ich werde zurückkehren und werde wieder überrascht sein von Neuem wie von Bewährtem. Und ich werde brennen, wieder auf den Straßen Begegnungen zu erfahren, Begegnungen mit Menschen, Situationen und Orten. Kaum eine Reise verändert so stark mein Denken wie eine nach Paris. Und für mein Leben und meine Fotografie finde ich nirgends so viel Inspiration wie in dieser Stadt. Deshalb hoffe ich auf noch viele Begegnungen in meinem Paris.


Eine Auswahl meiner PARIS-Fotografien finden Sie in den SCHUBLADEN meines Archivs an dieser Stelle.

Alle Fotos: © 2024 Karsten Enderlein

Hinterlasse einen Kommentar